Hören wir ein Gedicht von Kahlil Gibran, der ausgesprochen schön über unser Selbst und über unsere Rollen und Masken redet.

Du fragst mich, wie ich zum Narren wurde? Das geschah so: Eines Tages, lange bevor die vielen Götter geboren waren, erwachte ich aus einem tiefen Schlaf und gewahrte, dass meine Masken gestohlen worden waren - die sieben Masken, welche ich in sieben Leben verfertigt und getragen hatte. - Unmaskiert rannte ich durch die vollen Straßen und schrie: "Diebe, Diebe, die verdammten Diebe!"
Männer und Frauen lachten. Einige liefen aus Angst vor mir in ihre Häuser.
Als ich zum Marktplatz kam, rief ein Junge von einem Hausdach: "Er ist ein Narr!" Ich blickte empor, um ihn zu sehen: Da küsste die Sonne erstmals mein bloßes Antlitz. Zum ersten Mal küsste sie mein bloßes Antlitz, und meine Seele entflammte in Liebe zu ihr, und ich wünschte mir keine Masken mehr. Wie in Trance rief ich: "Segen, Segen über die Diebe, die meine Masken gestohlen!"
So wurde ich zum Narren.
 
Aber ich will nicht zu stolz sein auf meine Sicherheit. Denn auch ein Dieb ist im Kerker sicher vor einem anderen Dieb.

Jetzt wird uns klar, was unser Selbst eigentlich ist, wer wir selber eigentlich sind. Wir selber ungeschützt ungetarnt, ohne Maske.

Wir sind von „der Sonne“ geküsst, nicht unsere Maske, nicht unsere Rolle: unser bloßes Antlitz. Und da „entflammte“ unsere „Seele“, wir Selbst in Liebe zu ihr.

Jetzt sind wir uns Selbst. Jetzt sind wir derjenige der wir sind.

Die Liebe ist es, die uns zu uns selbst führt. Und die uns zueinander führt. Liebe ist es, die es uns ermöglicht, Masken abzulegen, ja keine Masken mehr zu mögen. Liebe ist es, die es uns ermöglicht, miteinander ins Gespräch zu kommen über unsere Rollen, die wir füreinander haben. Liebe ist es, die nicht auf Äußeres schaut. Liebe ist es, die Furcht und Angst überwindet. Liebe ist es die die Mühelosigkeit schenkt, all unsere Statussymbole wegnehmen zu lassen.

Freilich wie Gibran schreibt, ist es nicht so einfach seine „Besitztümer“ wegnehmen zu lassen. „Diebe, Diebe, die verdammten Diebe“ die nehmen weg: Die Maske der Jugendlichkeit, die Maske der Stärke, der Coolness, der Überlegenheit, die Maske des immer eine Antwort Habens. All die Masken, die wir geübt haben. Auch die Maske des Recht Habens, des Korrekt seins.

Manchmal muss uns auch mal eine Maske „gestohlen“ werden, damit wir sie nicht mehr aufsetzen. Manchmal muss uns etwas genommen werden, damit wir nicht mehr meinen wir sind „Erfolgreich“, gesund und stark. Wir sind unsere Rolle. Und dann können wir wie in Trance rufen: „Segen, Segen über die Diebe die meine Masken gestohlen“.